[Überarbeitete Fassung einiger INETBIB-Beiträge vom Juli
1998, kurz nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtschreibreform.
Vorangegangen waren einige kürzere Äußerungen von verschiedenen
Seiten.]
Anm. Juli 2004: Die inzwischen seit 1998 eingetretenen weiteren
Veränderungen sind in diesem Text nicht berücksichtigt! Zu
einer Verbesserung der Problemlage tragen sie eher nicht bei.
Gegen die Probleme, die in unseren Katalogdatenbanken durch die Rechtschreibreform
zu erwarten sind, wurden schon mächtige Geschütze aufgefahren:
Vorschläge wurden angedacht zur Konstruktion und Institutionalisierung
von Konkordanzdateien, wobei dann auch Schreibvarianten von insbes. englischen
Wörtern in die Überlegung einbezogen wurden.
... in diesem Beitrag geht es um die Substanz der Änderungen durch
die Rechtschreibreform. Es wird sich zeigen, welche Probleme sich bei genauerem
Hinsehen daraus für eine Wörterbuchlösung ergeben. Es wird
sich auch zeigen, daß größere Mengen von Fällen auch
ganz anders gelöst werden können, und zwar mit viel geringerem
Aufwand. Am Schluß wird ein Drei-Komponenten-Verfahren vorgeschlagen,
das mit relativ geringem Aufwand auskommt - im Vergleich zu den "schweren
Geschützen" eher eine dreiläufige Schrotflinte.
Doch eine Tatsache bleibt bestehen: unsere Daten werden ab sofort weiter
"verunreinigt" (d.h. die Inkonsistenz steigt stärker als bisher).
Im Ausland wird man wohl keine der Lösungen, die wir uns ausdenken
mögen, nachvollziehen. Das bedeutet, daß deutsche Bücher
in der Welt (noch) schwieriger auffindbar werden als vor der Reform - spätestens
dann, wenn die nachwachsende Generation das "neue" Deutsch gelernt hat
und damit auf die Kataloge losgeht.
Die Rede ist hier nur von KATALOGsytemen. Über Suchmaschinen und
Volltextsysteme mögen andere nachdenken, die dafür mehr Kompetenz
besitzen. (Das Wortgut in Katalogen ist überwiegend Titel- und Schlagwortmaterial,
und dieses besteht meistenteils aus Nominalphrasen und unterliegt einer
gewissen intellektuellen Kontrolle! Bei Volltextdaten, auch schon bei Abstracts,
ist das anders: es treten Satzkonstrukte auf und viel mehr unkontrolliertes,
auch irrelevantes oder gar irreführendes Vokabular.)
Unkritisch für OPACs, weil nicht relevant oder algorithmisch sehr
leicht zu lösen, sind Groß-/Kleinschreibung, Kommasetzung, Akzente,
Silbentrennung, und auch ss statt ß.
Das Thema Umlaute, nebenbei bemerkt, wird durch die Reform nicht berührt.
Man kann dazu auf ein von der Regelwerkskonferenz angenommenes Gutachten
verweisen ("Zur
Ordnung und Codierung der Umlautbuchstaben", Mai 1998). Es kann sein,
daß rein zahlenmäßig die Umlaute ein viel größeres
Problem darstellen, jedenfalls bei grenzüberschreitenden Abfragen,
als die Auswirkungen der Rechtschreibreform, jedoch sind sie viel leichter
zu beherrschen, es sind ja nur drei Sonderbuchstaben mit je zwei Alternativen!
Spürbare Effekte enstehen nur durch die Änderungen in den Bereichen
A. Zusammen-/Getrennt-/Bindestrichschreibungen
B. Wortstammänderungen
C. Dreifach- statt Doppelbuchstaben
D. Eindeutschung von Schreibweisen
Dazu folgt jeweils eine Liste mit Beispielen. Links ist die Anzahl Einträge
angegeben [Mitte 1998], die im zentralen Katalog des GBV (Göttingen,
ca. 12 Mio. Datensätze) bzw. im OPAC der UB Braunschweig (400.000
Einträge) zu den Wörtern zu finden sind. Für beide Datenbanken
ist allerdings nicht bekannt, wieviele deutsche Titel sie enthalten. Es
sind immer auch die flektierten Formen (Genitiv, Dativ, Plural...) mit
berücksichtigt, ferner, soweit möglich, Zusammensetzungen mit
anderen Wörtern, wobei die hier genannten den ersten Teil bilden.
Die anderen, wo also die hier aufgeführten Wörter hinter einem
anderen in einer Verbindung stehen, konnten nicht ermittelt werden! (Z.B.
lungenkrebserregend, leichtmetallverarbeitend, Baustop, Zechenstillegung...)
Für Katalogisierungs-Laien: Die Listen bedeuten keinesfalls,
daß nur diese Einträge alle zu ändern wären, und damit
wär's dann getan! Man kann nicht davon sprechen, die Kataloge "auf
die neue Rechtschreibung umzustellen." NICHTS darf geändert werden,
denn die Wörter stehen so in den Büchern, sind deshalb
auch in allen Bibliographien so zitiert, müssen daher so katalogisiert
werden, damit sie auch so gefunden werden können. Dieses Prinzip
heißt "Vorlagentreue" und ist ein Grundpfeiler der Katalogisierung.
Ohne dieses Prinzip hätte man große Probleme mit dem Datenaustausch
und der Verbundkatalogisierung, ganz besonders im Austausch mit dem Ausland.
Die Daten, so wie sie jetzt sind, müssen so bleiben für alle
voraussehbare Zeit. Und genau daraus erwächst das Debakel: neue Buchtitel
werden neue Schreibweisen enthalten und müssen konsequent auch so
erfasst werden. Damit entstehen neue Einträge an anderen Stellen in
den Registern, also Inkonsistenzen, die sich progressiv immer häufiger
auf die Suchergebnisse auswirken werden. Immer mehr wird man an diese Möglichkeit
denken müssen, d.h. man wird die alte Rechtschreibung auf keinen Fall
verlernen dürfen! Von Bibliothekaren kann man das vielleicht verlangen
(obwohl sie dafür keine Erschwerniszulage bekommen werden), aber vom
Publikum und von Ausländern? Die werden in wenigen Jahren fast nur
noch die neuen Schreibungen als Suchwörter eingeben, also z.B. nach
"nichtlinear" oder "andersdenkend" gar nicht erst suchen.
A. Zusammen-/Getrennt-/Bindestrichschreibungen
Kritisch sind nur die Fälle, die vorher zusammen und jetzt getrennt
geschrieben werden oder umgekehrt, denn Bindestrichwörter konnten
auch bisher schon doppelt indexiert werden, damit man sie als Ganzwort
wie auch beide Teile einzeln finden kann.
Diese kritischen Fälle sind mit 'x' am linken Rand markiert.
alt: neu:Die mit * gekennzeichneten Wörter dürfen auf beide Arten geschrieben werden. Einige dieser Beispiele stehen stellvertretend für viele andere Wörter, die in gleicher Weise verändert werden (leichtverderblich, kunststoffverarbeitend, ekelerregend, ...) Natürlich sind jeweils die flektierten Formen mit zu berücksichtigen. Will man dieser Problemgruppe mit einer Wörterbuchmethode begegnen, wird es schwierig: die neuen Schreibweisen bestehen oft aus zwei Wörtern, das ist ja gerade die Neuerung. Was der Mensch leicht aus dem Kontext als zusammengehörig erkennt, ist für den Computer sehr viel schwieriger als eine Einzelwortverarbeitung.
115 7 afro-amerikanisch afroamerikanisch
x 215 22 alleinerziehend allein erziehend
x 111 10 allgemeingültig allgemein gültig
x 593 24 allgemeinverständlich allgemein verständlich
56 3 altberliner alt-berliner
x 36 -- andersdenkend anders denkend
504 19 anglo-amerikanisch angloamerikanisch
x ~50 3 Cash flow Cashflow
x 19 5 datenverarbeitend Daten verarbeitend
x 14 4 duennbesiedelt duenn besiedelt
x 17 1 eisenverarbeitend Eisen verarbeitend
x 16 1 eislaufen Eis laufen
x 8 1 erdölexportierend Erdöl exportierend
x 39 2 ernstgemeint ernst gemeint
x ~50 1 Fast food Fastfood
~200 11 Feedback *Feed-back
x 36 1 fleischfressend Fleisch fressend
x 9 2 getrenntlebend getrennt lebend
x -- gutunterrichtet gut unterrichtet
x 17 1 hilfesuchend Hilfe suchend
x 20 2 Joint-Venture Joint Venture oder Jointventure
x 26 10 krebserregend Krebs erregend
x 249 14 leichtverständlich leicht verständlich
x 465 19 metallverarbeitend Metall verarbeitend
45 3 Midlife-crisis *Midlifecrisis [engl.: mid-life crisis!]
x ?? 20 New Age *Newage
x 28 6 nichtleitend nicht leitend
x 3974 810 nichtlinear *nicht linear
x 193 21 nichtrostend nicht rostend
x 2 -- nichtssagend nichts sagend
x 87 4 notleidend Not leidend
x 222 26 radfahren Rad fahren
x 8 2 rueckwärts... rueckwärts ...
x 62 6 schwachbe... schwach be...
x 49 -- Safer Sex *Safersex
5 -- Schnee-Eule Schneeeule
484 20 Science-fiction Sciencefiction
x 1 -- vielbefahren viel befahren
1662 35 100jährig 100-jährig [gilt für alle Zahlen]
x 4 1 zulasten zu Lasten
x 524 9 zuviel zu viel
alt: neu:Gerade bei den hochfrequenten Wörtern Tipps und Potential gibt es auch noch zahlreiche Komposita, in denen sie den zweiten Teil bilden (Innovationspotential, Supertips, Geheimtips...)
11 2 aufgerauht aufgeraut
934 31 essentiell *essenziell
1326 500+ differential/ell... *differenzial/ell...
179 23 existentiell *existenziell
179 4 Delphin *Delfin
331 22 Facette *Fassette
44 4 fritier... frittier...
229 1 Greuel Gräuel
110 1 Joghurt *Jogurt
20 -- Justitiar *Justiziar
94 -- Känguruh Känguru
77 1 numerieren/ung... nummerieren/ung...
451 11 Panther *Panter
127 21 Plazieren/ung Platzieren/ung
3000+ 300+ Potential/ell potenzial/ell
1106 72 rauh... rau...
3016 115 selbständig... *selbstständig...
439 63 sequentiell... sequenziell...
100+ -- Spaghetti *Spagetti
80+ 6 stengel Stängel
10 -- Steptanz Stepptanz
?? 2 Stop Stopp
147 6 Stukkateur/tur Stuckateur/tur
39 -- substantiell *substanziell
9 -- Thunfisch *Tunfisch
9999+ 193 Tip/Tips Tipp/Tipps [viele engl. Titel!]
159 3 Trekking *Trecking
163 10 unselbständig *unselbstständig
87 8 verselbständigen *verselbstständigen
19 1 Zierat Zierrat
C. Dreifach- statt Doppelbuchstaben
Den Löwenanteil stellt hier die oft zitierte Schiffahrt, zumal sie auch noch in Verbindungen vorkommt (Binnenschiffahrt, ...). Das gilt aber auch für andere: Leicht-, Hart-, Edelmetalllegierung.
alt: neu:Für diese Gruppe gibt es eine Patentlösung! Sämtliche Fälle mit Dreifachbuchstaben könnten ohne Wörterbuchdatei erschlagen werden: man bräuchte nur beim Indexieren alle Dreifach- durch Doppelbuchstaben zu ersetzen, und dasselbe in der Nutzereingabe. Das würde sogar kaum auffallen, denn die Ergebnisse wären absolut korrekt: es gibt keine Fälle, wo beide Schreibungen mit unterschiedlicher Bedeutung vorkämen. Es gibt übrigens schon jetzt Einträge in unseren Registern mit Dreifachbuchstaben: sie entstehen aus Bindestrich-Schreibungen, also z.B. Kunststoff-Fabrikation, wenn das System die Bindestriche beim Indexieren entfernt (z.B. Pica). Auch diese Fälle wären dann erledigt: der Dreifach-Doppel-Ersatz muß nur NACH der Bindestrich-Entfernung geschehen!
6 -- Atommuellager(ung) Atommuelllager(ung)
32 -- Ballettänzer/in/tage Balletttänzer/in, Balletttage
825 18 Binnenschiffahrt Binnenschifffahrt
94 6 Brennessel Brennnessel
28 2 Edelmetallegierung Edelmetallegierung
1 1 Flussediment Flusssediment
14 -- Kunststoffenster Kunststofffenster
41 5 Kunststoffolie Kunststofffolie
9 1 Kunststofform... Kunststoffform...
14 -- Kunststoffuellung.. Kunststofffuellung...
50 1 Metallegierung Metalllegierung
5 -- Nullösung Nulllösung
222 2 Rheinschiffahrt Rheinschifffahrt
68 4 Rolladen/läden Rollladen/läden
14 4 Sauerstoffunktion.. Sauerstofffunktion..
53 6 Schalleistung Schallleistung
3036 41 Schiffahrt... Schifffahrt
285 5 schnellauf.../läuf... schnelllauf.../läuf..
5 -- Schnellesen Schnelllesen
1 -- Schrittempo Schritttempo
38 1 Stalluft Stallluft
12 1 Stammutter Stammmutter
36 8 Stickstoffixier... Stickstofffixier...
11 -- Stickstofform.. Stickstoffform...
353 11 Stilleben Stillleben
246 18 Stillegung Stilllegung
104 21 Werkstofforschung Werkstoffforschung
8 2 Zellstoffaser Zellstofffaser
8 1 Zellstoffabrik.. Zellstofffabrik..
D. Eindeutschung von Schreibweisen
Zum einen gibt es hier eine außerordentlich kleine Gruppe, die katalogmäßig kaum ins Gewicht fällt (Majonäse, Ketschup, Schikoree und andere unsägliche Neuschreibungen, die wir hoffentlich nie in Titeln sehen werden). In diese Gruppe gehört aber auch eine größere Menge von Wörtern, die die Silben "graph", "phon" oder "phot" enthalten. Diese dürfen in Zukunft durch "graf", "fon" bzw. "fot" ersetzt werden. Für ..graph.. gibt es die Regel: "Nur Wörter des sog. Bildungswortschatzes behalten die Originalschreibweise: Kalligraphie, Seismograph." Selbst wenn der Begriff "Bildungswortschatz" genauer definiert wäre (was nicht der Fall ist), könnte man für die Erkennung solcher Wörter keinen Algorithmus entwickeln. Also doch ein Lexikon aufbauen? Das Problem ist, es gibt unter diesen Wörtern zahlreiche ad-hoc-Neubildungen, wie z.B.
aerophotogrammetrisch
impulszytophotometrie
thermophotovoltaisch
Stereoorthophoto
und natürlich Flexionsformen solcher Wörter. Fallen diese
alle unter "Bildungswortschatz" und behalten folglich das "ph"?
Wie auch immer, eine Wörterbuchdatei müßte für
diesen Spezialbereich intensiv gepflegt werden, denn es können praktisch
jeden Tag Neubildungen daherkommen. Daß die Wissenschaft beim "ph"
bleiben werde, kann nicht pauschal angenommen werden: man findet schon
Neologismen wie "Motografie". Eine Volltextsuche in 400.000 Titeldatensätzen
ergab folgende Frequenzen:
..graph.. 9.698 davon 1.600 am WortanfangDabei sind die fremdsprachigen Wörter mitgezählt, die natürlich unbetroffen wären. Auch ist zu bemerken, daß die neuen Schreibweisen längst in der Realität vorkommen. Hier wird durch die Reform also nur die Praxis nachträglich sanktioniert, aber die Schreibung mit "f" wird quantitativ zunehmen.
..phot.. 2.912 2.700
..phon.. 920 243
Summa summarum kann vermutlich eine 90%-Lösung, vorsichtig geschätzt, mit drei bis vier Komponenten erreicht werden (wobei wohl die erste die schwierigste ist):
3 fotografAuch der Nutzen der SIEHE AUCH-Hinweise ist unmittelbar ersichtlich (diese hier sind aus dem SWD-Satz für "Photographie" entstanden).
10 fotografen
2 fotografiai
84 fotografie
1 fotografie SIEHE AUCH -> photographie
11 fotografien
1 fotografiere
16 fotografieren
1 fotografierenden
1 fotografierens
6 fotografiert
1 fotografierter
4 fotografii
2 fotografik
1 fotografin
11 fotografische
5 fotografischen
1 fotografischer
1 fotografisches
2 fotogrametria
5 fotogrametrico
1 fotogramme
2 fotogrammetria
1 fotographie SIEHE AUCH -> photographie
...
... Allerdings: Rechtschreibänderungen hat es im Deutschen wie
auch in den meisten anderen Sprachen permanent gegeben, nur der Weg auf
dem dies diesmal geschah ist neu. Über Änderungen, die die Duden-Redaktion
durchgeführt hat, gab es halt keine öffentliche Diskussion. Verglichen
mit der Reform von 1905, die drei bis dahin geltende offizielle unterschiedliche,
korrekte, Standards ersetzt hat, sind die Veränderungen kaum bemerkbar.
Damals wurde das "th" weitgehend abgeschafft, obwohl man dann den Ton in
der Musik nicht mehr vom Material Thon (Lehm) unterscheiden konnte, das
"c" wurde weitgehend durch "k" ersetzt. Die Erfinder der PI mußten
auch damit klar kommen (und haben das dann so versucht, daß wir heute
Probleme haben: Karl / Carl). Anscheinend war das Wilhelminische Deutschland
immer noch reformfreudiger als das Nach-Wende-Deutschland (man denke nur
an die Einführung des BGB, das viele alte Rechtsvorschriften ersetzt
hat). Und: diese Probleme haben wir in allen alten Katalogen, die Bestände
vor 1905 nachweisen, es wurde bisher eher am Rande als nur für ältere
Literatur relevant thematisiert, etwa im Zusammenhang mit Normdaten für
Verlagsorte.
Nur, um zum Thema zu kommen: wenn man schon Werkzeuge für die
Abfederung der Rechtschreibreform entwickelt, sollte man dann nicht auch
alle Reformen (die von 1905 und die schleichenden in der Folgezeit) einbeziehen?
Weiter: Biologen haben auch immer wieder mit änderungen der Terminologie
zu kämpfen: z.B. die Gräser haben die Bezeichnung von Graminae
zu Poaceae geändert. Soll man dann auch so was in ein Wörterbuch
aufnehmen? Wo ist die Grenze? ("In Hessen sagt man Gaul und schreibt Pferd"
;-) ) Was ist mit fremden Sprachen?: Das "arkiv för matematik, astronomi
och fysik 1903 ff" will auch gefunden sein. Anscheinend hatte Schweden
solch eine Reform schon des längeren hinter sich, ohne das die schwedische
Literatur, Wissenschaft und Kultur oder gar das Bibliothekswesen größeren
Schaden genommen hätte? Meine Meinung: Rechtschreibänderungen
sind das normale, es ist "nice to have" wenn es Werkzeuge gibt, die Folgen
abzumildern, aber mit Rechtschreibänderungen umgehen muß man
schon seit Jahrzehnten (zumindest seit 1905 in Deutschland).
Ob die Hilfsmittel auf die Dauer nicht hinderlicher sind als der bewußte
Umgang mit unterschiedlichen Schreibweisen? (Carl / Karl - Problem). Die
neuere Schreibweise erleichtert eine zeitlich geschichtete Suche (pointiert
formuliert). Zur Ästhetik: Und ob Ketschup hässlicher aussieht
als Möbel (meuble), Büro (Bureau) und Direktion (Direction) -
Ansichts-Sache. Man wird sich daran gewöhnen wie an die Ringe in der
Nase, die von einigen als schrecklich, von anderen als "geil" empfunden
werden.
Ein Rechtschreib-"Debakel" als solches kann ich nicht erkennen, beschränkt
auf Kataloge war es seit Jahrzehnten unser Begleiter. Aber ich finde sehr
gut, wenn aus diesem Anlass diese an sich langjährigen Probleme in
den Katalogen konkret benannt werden und Lösungsmöglichkeiten
gesucht werden.
Antwort zur Zuschrift von L. Kalok:
Lieber Herr Kalok,
zu Ihrer Zuschrift einige Bemerkungen:
> Anscheinend war das Wilhelminische Deutschland immer noch reformfreudiger
> als das Nach-Wende-Deutschland
Damals war aber wohl der Druck viel größer, weil es mehrere
verschiedene "Standards" gab, die unvereinbar waren. Sicher haben wir mit
den anwachsenden Daten alter Bücher eh schon wachsende Mengen von
orthographisch uneinheitlichem Material. Deshalb rede ich bewußt
von einem "Debakel", weil nun die ohnehin unbefriedigende Situation eigentlich
ohne Not (im Vergleich zu 1905) verschärft wird, und gleich durch
vier verschiedene Kategorien von Detailproblemen, die sich unterschiedlich
auswirken und denen zum Teil nur schwer beizukommem ist (besonders dem
Getrenntschreibungsproblem).
Vom theoretischen, akademischen Standpunkt KANN man allerdings auch
ganz anders argumentieren: Titel sind problematische Elemente, jedenfalls
ist die Art, wie wir damit umgehen, problematisch. Denn wir teilen ihnen
eine Doppelfunktion zu:
1. Vorlagengetreue Beschreibung. Die ist unverzichtbar für
das Suchen und Identifizieren von genau bekannten Werken - die wichtigste
Aufgabe des Katalogs, und auch für den internationalen Austausch.
2. Zugriffskriterium. Titelwörter machen meistens Sachaussagen
über den Inhalt des Buches und werden deshalb nicht nur für formale,
sondern auch für thematische Zugriffe benutzt.
Zugriffskriterien verlangen nach Konsistenz, sonst sind sie unzuverlässig.
Nur wenn man konsequent Ansetzungstitel in normierter Orthographie bilden
würde, und das tun wir nicht, könnte man beide Funktionen zufriedenstellend
bedienen, d.h. mit zwei verschiedenen Datenfeldern. Wir konzentrieren uns
aus wohlerwogenen Gründen auf die erste Funktion, d.h. die zweite
kommt notwendigerweise zu kurz. Unsere Beschreibungen SIND konsistent
(naja, cum grano salis), deshalb KÖNNEN die Zugriffskriterien
gar nicht konsistent sein, weil dafür dasselbe Datenfeld genutzt wird.
In den Anfangsjahren der bibliothekarischen DV wurde viel diskutiert,
daß Titelstichwörter als sachliche Zugriffe ungeeignet seien.
Wir haben wenig getan, diese Tatsache den Benutzern nahezubringen. Unaufgeklärt
wie sie sind, erwarten sie vom Computer zuverlässige Antworten auf
sachliche Fragen. Nach Lage der Dinge kann er die nicht geben, und in Zukunft
noch weniger. Man könnte auch sagen, daß wir mit dem Angebot
des Stichwortzugriffs allzulange die Misere der Sacherschließung
verschleiert haben. Aber vertiefen wir das jetzt nicht, sonst wird die
Diskussion uferlos. Sonst kommen wir auch noch in die Philosophie und erkennen
im unauflösbaren Dilemma des Titelfeldes den Nachhall des scholastischen
Universalienstreits oder gar das Aufeinanderprallen von platonischem Begriffsrealismus
und aristotelisch-thomanischem Nominalismus, wie es auch noch in Goethes
Schülerszene anklingt: "... doch ein Begriff muß bei dem Worte
sein!" Doch Worte sind Schatten, zumal Titelworte, die für sich genommen
und ohne Kenntnis des Inhalts manchmal gar keinen Sinn ergeben oder gar
in die Irre führen. Als Sachzugriff ist und bleibt der "Sach"-Titel
von begrenztem und zweifelhaftem Wert (er wird ja auch bald wieder nur
noch "Titel" heißen, auch in den RAK), und auf diese lange verdrängte
Erkenntnis werden wir nun erneut und jetzt wohl endgültig zurückgeworfen.
Wenn wir die Dinge so sehen wollen, liegt das eigentliche Debakel nicht
in der sich ändernden Orthographie, sondern in den praktischen Folgen
der besagten Verdrängung. Überspitzt: das Kartenhaus wird endgültig
baufällig. Über den Gartenzaun hinausblickend ist aber dennoch
festzuhalten, daß immer mehr Retrievalsysteme (Suchmaschinen!) ganz
ohne intellektuelle Erschließung auskommen müssen, und daß
immer mehr Informationssuchende sich von solchen Instrumenten eine gewisse
Verläßlichkeit wünschen. Hier müssen wir weiter vom
"Debakel" reden, weil die Reform hier ganz unausweichlich die Qualität
des Retrievals verschlechtern wird. Keine Entwarnung! Es war nicht zuletzt
die lange Stabilität (seit 1905), die dem Sachtitel als Sachzugriff
zugute gekommen ist, aber jetzt geht sie zu ende. Wenn die Reform uns zu
höherer Einsicht und zu einer Aufwertung der Sacherschließung
führt, hat sie insofern sogar ihr Gutes, obwohl man ja in der Schlagwortnormierung
auch die neuen Schreibungen mindestens als Verweisungen einbringen muß.
Wenn man die Dinge so sehen will, ist man fast versucht, zu einem bibliothekarischen
Aschermittwoch aufzurufen. Mindestens müssen wir über kurz oder
lang unseren Nutzern endlich reinen Wein einschenken... (wenn die nur zuhören
würden!)
Auf den Beitrag "Rechtschreib-Debakel" kam ferner eine Zuschrift vom Geschäftsführer der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung:
Sehr geehrter Herr Eversberg!
Danke für Ihre Hinweise, die ich weiterreichen werde. Möglicherweise
hat diesen Aspekt keiner so recht bedacht. Haben Sie das Problem nicht
jetzt schon, wenn Sie Texte in anderer Schreibweise (alte Texte, literarische
Texte, Texte in eigenwilliger Orthografie usw.) und auch Texte mit Variantenschreibungen
(der alte Duden enthält ihrer ca. 6.000!) vercomputern? Sind Suchsystemen
nicht immer irgendwelche Grenzen gesetzt? Ist die Verschlimmerung - abgesehen
von der Zweigleisigkeit der Übergangszeit - wirklich so schlimm? Kann
man nicht eine Liste der veränderten Stammschreibungen so in den Computer
einbauen, daß er von sich aus beide Schreibweisen abfragt? Ist das
nicht eher ein (computer-)technisches Problem?
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Klaus Heller, Geschäftsführer der Zwischenstaatlichen
Kommission für deutsche Rechtschreibung beim Institut für Deutsche
Sprache (IDS) Postfach 10 16 21 D-68016 Mannheim Internet: http://www.ids-mannheim.de
*****************************************************************
... und die Antwort lautete:
Sehr geehrter Herr Dr. Heller,
vielen Dank für Ihre Zuschrift. Ich will gerne versuchen, auf
Ihre Fragen zu antworten: