Paradigma heute schon gewechselt?

Weltbild-Wandel in Bibliotheken

Für Umstürze in der Gedankenwelt gilt heute die Wortmünze "Paradigmenwechsel", geprägt 1962 von Thomas S. Kuhn. In "The Structure of Scientific Revolutions"  postulierte er erstmals, die Erkenntnis mache zuweilen Sprünge und in den Wissenschaften fänden Revolutionen statt. Damit löste er seinerseits einen Paradigmenwechsel aus, und zwar in der Wissenschaftsgeschichte und -soziologie. Vorher hatte man da an ein gemessenes, mehr oder minder diszipliniertes Fortschreiten, nicht -springen, von Ära zu Epoche geglaubt. Kuhns Münze hat sich weit hinaus über ihren vorgesehenen Geltungsbereich, die Republik der Naturwissenschaftler, verbreitet. Heute kann sie einem überall plötzlich in die Hand gedrückt werden und es gilt nicht als klug, sie schroff zurückzuweisen.

Wer einen Merksatz will, kann sich notieren: Beim Paradigmenwechsel ändert sich das Weltbild, nicht die Welt.
Beispiel: Kopernikus hat das Sonnensystem nicht umgebaut, er hat es nur auf neue Weise beschrieben; alles blieb dabei an seinem Platz. Dafür war sein Kopf (mit dem neuen Weltbild darin) in Gefahr, nicht an seinem Platz zu bleiben. Die Konfliktdynamik von Paradigmenwechseln hatte er aber durchaus schon erkannt, deshalb machte er die Erkenntnis erst kurz vor seinem natürlichen Ableben bekannt.

Welche Paradigmenwechsel hat das Bibliothekswesen durchgemacht? Steckt es momentan mittendrin in einem, oder ist gerade einer vorbei? Was wird der nächste sein?
Es geht nicht um den Wechsel der Mittel, Moden und Methoden, nicht um Revolutionen des Geschäftsgangs oder der Handlungsmuster, z.B. im Auskunftsdienst,  nicht um den Einzug der Elektronik, nicht um das Einbinden von Bibliotheken ins WWW und nicht um's E-Publizieren. Es geht nicht um's Wie, sondern um's Was, also um einen Wandel im Selbstverständnis wie auch in der Wahrnehmung von Bibliotheken durch ihre Nutzer, um Funktion und Rolle von Bibliotheken in Wissenschaft und Gesellschaft.
Der gelegentlich geforderte Wandel von der Hol- zur Bring-Bibliothek oder zur Hybrid-Bibliothek, die neue Setzung des Schwerpunkts auf "Versorgung" statt "Bestand ("access" statt "ownership")", dies sind eher Erweiterungen des Bestehenden oder Akzentverschiebungen, keine ganz neuen Denkmodelle.
Es ist ferner ebenfalls kein Paradigmenwechsel, wenn wir heute Dinge zugänglich machen, die nicht in den eigenen Mauern lagern. Das hat die Fernleihe schon immer getan, sogar schon in Alexandria.
Und Gesamtkataloge sowie Bibliographien, die weit mehr verzeichnen als den Bestand nur einer Bibliothek, sind gleichfalls alt. Goethe ließ einen Gesamtkatalog dreier Bibliotheken in Jena und Weimar anlegen und nannte ihn "virtualen Katalog" (Briefe an Schiller vom 9.12.1797 und 19.1.1802). Die heutigen virtuellen Kataloge sind die technische Umsetzung einer alten Idee mit neuen Mitteln, die ein physisches Vereinigen der Kataloge nicht mehr erfordern.

Gern wird als Beispiel zitiert, die amerikanischen Eisenbahnen hätten zu spät erkannt, nicht im Eisenbahngeschäft zu sein, sondern im Transportgeschäft. Ihr falsches Denkmodell führte ins Debakel, weil sie daraus Schlüsse zogen, die zwar in der Logik ihres Denkmodells richtig, in der Praxis deshalb aber falsch waren. Kann das den Bibliotheken auch passieren?
Was ist denn aber das eigentliche Geschäft von Bibliotheken und was bewirken sie? An den Antworten auf diese Fragen könnte sich erweisen, ob das Denkmodell sich gewandelt hat oder wandeln sollte.

Ein historischer Paradigmenwechsel begann im antiken Alexandria, als man erfuhr, das neureiche Pergamon habe den Ehrgeiz, die Bibliothek des Museion zu übertrumpfen. Das konnte zwar kaum gelingen, aber man verzeichnete PR-Erfolge. Angeblich hatte man eine unbekannte, vollständige Demosthenes-Ausgabe neu entdeckt. Was sich zwar als Irrtum erwies, aber Pergamon hatte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erobert. Als Kleopatra I. kommissarisch die Macht übernahm, zog sie die Notbremse (um 180 v.Chr.), indem sie den Export von Papyrus untersagte. Darauf besaß Ägypten Patent und Monopol. Fieberhaft suchte man in Pergamon nach Ersatz - und erfunden wurde das Pergament. Die Gelehrten in Alexandria verteufelten es prompt als ein Sakrileg, diesem anrüchigen Beschreibstoff altehrwürdige Texte anzuvertrauen (Häute von irgendwelchem Viehzeug!), und dichteten ihm sogar Schädlichkeit für die Augen des Schreibers wie des Lesers an. Eine Schlammschlacht, wie sie zu einem zünftigen Paradigmenwechsel dazugehört, wenn er so richtig in Gang kommt.

Alexandria dachte also offenbar, das Geschäft der Bibliothek sei das Sammeln von Papyri. Ein Papyrus war schließlich der Inbegriff des Dokuments. Erstaunlich aber: Noch heute wird das "Papier" (und im englischen das "paper") weithin als Synonym des wissenschaftlichen Dokuments empfunden, wie schon in der Gelehrtenrepublik Museion. Niemand wundert sich, wenn irgendwo steht: "Zu diesem Thema liegt ein ganz neues Papier vor: http://www.xyz.de/abc.htm". Wie kann das sein? Ist der Paradigmenwechsel, der in Alexandria begann, noch immer nicht abgeschlossen? Weder in den Köpfen der Bibliothekare noch ihrer Kunden?
Sprache und Denken sind unauflöslich verquickt und verwoben, das eine wandelt sich immer mit dem anderen, und so haben wir hier einen staunenswert langsamen Wandel vor uns. Sicher, das "Papier" ist heute, genau besehen, nur mehr Metapher, aber dieses Wort hat sich gehalten, obwohl es Alternativen gegeben hätte, wie z.B. die abstrakteren "Dokument", "Text", "Werk" oder "Arbeit". Alle sind gebräuchlich, aber das Papier, das Wort für den Träger, blieb im Zentrum des Denkmodells, und nicht ein Wort für das, was darauf transportiert wird. "The medium is the message" - immer schon und immer wieder.

Ein unreflektiertes, schiefes Weltbild kann zu falschen Schlüssen verleiten, das ist das Problem. Siedend heiß fällt einem da aber plötzlich auch auf: "Bibliothek" heißt ja eigentlich "Lager für Bücher". Besteht womöglich immer noch eine stillschweigende Neigung, das wörtlich zu nehmen? Versuche hat's ja gegeben, einen neuen Namen zu etablieren - ohne Erfolg. 

Das Geschäft der Bibliotheken, halten wir deshalb fest, ist nicht das Sammeln von Papieren oder Büchern. Zu den Pergamenten kamen im Verlauf der Geschichte immer neue Materialien hinzu, bis hin zu Karten, Noten, Mikroformen, AV-Materialien, schließlich Dateien. Aha, dann besteht also das Geschäft im Sammeln von Aufzeichnungen aller Art, ohne Rücksicht auf das Trägermaterial? Schon in Alexandria war das nicht so! Man besorgte, wenn ein Werk nicht vorhanden war, eine Kopie von anderswo, man machte Abschriften und Übersetzungen. Zur Tätigkeit der Bibliothek gehörte somit auch das Besorgen und Bereitstellen von Inhalten, die gebraucht wurden. Der Museions-Vorsteher (zugleich zweiter Mann im Staate!), damals ein Aristophanes aus Byzanz, hatte keine Zeit, innezuhalten und zu reflektieren: "Was tun wir eigentlich?". Sonst hätte er bereits formulieren können: 

"Wir machen Aufzeichnungen zugänglich. Und das unabhängig vom Thema, von Herkunft, Sprache und Beschreibstoff - also her mit dem Pergament!" 

Nochmals: Ein Paradigmenwechsel ändert ein Weltbild, nicht die Welt. Alles bleibt, wie es ist, man versteht's nur auf einmal besser. Das bessere Verständnis kann hernach freilich zur durchaus drastischen Umorientierung des Handelns führen, weil man nun besser weiß, auf was es ankommt und auf was nicht. Eine solche Folge des Paradigmenwechsels ist nicht der Wechsel selbst, der ist zu dem Zeitpunkt schon erledigt. Allerdings meint heute oft derjenige, der vom Paradigmenwechsel redet, damit nur eine veränderte oder sich ändernde Praxis. Der Wortgebrauch ist inzwischen durchaus inflationär und ubiquitär (ebenso ergeht's ja der "Philosophie") und oftmals nur pompöse Bemäntelung irgendwelcher Eingriffe ohne tiefen theoretischen Hintergrund. Umbrüche im Tun und Treiben der Menschen werden nicht immer von einem Weltbild-Wandel ausgelöst.

"Wissen" und "Information" kamen bis hierher nicht vor. Es war von "Aufzeichnungen" die Rede, und das nicht ohne Gründe. Erstens einmal befindet sich Wissen nicht auf Papier (oder in einer Datei), sondern nur in Köpfen. Und "Information" - dieses Wort ist wegen seiner Bedeutungsvielfalt mit großer Vorsicht zu verwenden. Eine der Bedeutungen ist die, die zu dem Verb "informieren" oder "sich informieren" gehört. "Information" erscheint da als der Vorgang der Wissensentstehung oder auch nur des Datentransports. Meint man das, was auf dem Datenträger physisch vorhanden ist (Tinte, Farbe, Magnetisierung), dann ist das keine Information. Wenn ich die Schrift nicht lesen kann, die Sprache nicht verstehe oder die Darstellung mir geistig zu hoch ist, kann ich mich daraus nicht informieren. Was da steht, das sind "Daten", also schlichte "Gegebenheiten". Und dafür ist das neutrale Wort "Aufzeichnungen" immer gültig, quer über alle Materialien hinweg. Man sucht also, bei Lichte besehen, nie direkt nach Information oder Wissen. Man hat nach geeigneten Aufzeichnungen zu fahnden, aus denen man sich informieren kann, damit sich im eigenen Hirn neues Wissen bilde. Endergebnis: Bildung. Wir hatten oben gesehen: wenn "Papier" gesagt wird, ist meistens der geistige Gehalt gemeint. Umgekehrt ist, wenn "Information" oder "Wissen" gesagt wird, oft genug die Aufzeichnung gemeint, nicht der Vorgang der Aneignung und Umsetzung in (immer subjektive) Kenntnisse. Ein Kuddelmuddel sondergleichen, ein Nährboden für Fehlvorstellungen. "Was man schwarz auf weiß besitzt", das ist weder Information noch Wissen. Es informiert nur den, der es lesen und verstehen kann, und es wird zu Wissen nur für den, der es verarbeiten, einordnen und verwenden kann. So wird klar: einen "Wissensmarkt" (auch schon als neues Paradigma vorgekommen) kann es nicht geben. Wissen kann man sich zwar aneignen, doch das ist nur eine Metapher! Kaufen und verkaufen kann man nur Papiere und Dateien, und dafür müssen die irgendwo zugänglich gemacht werden.  Das konnte immer schon auf mehrere Weisen geschehen, heute eben auch elektronisch. Ein "Markt" wie jeder andere ist dadurch noch nicht gegeben, unter anderem weil das Veröffentlichen im Gegensatz zu der für einen Markt typischen Verknappung steht. Es kann unterschiedliche Zugangsarten geben (schnelle und langsame, teure und billige ...), da kann sich "Markt" abspielen und auf dem Gebiet tut sich sehr viel bis hin zur Globalisierung, aber das ist nicht prinzipiell neu (Buchhandel ist auch uralt) und die Problematik ist bekannt, angefangen beim Urheberrecht usw. usf.

Das Sammeln von Papyri war also für Alexandria wohl nicht das eigentliche Geschäft! Als man das gemerkt hatte, hörte man nicht etwa damit auf, sondern machte unverdrossen weiter. Denn die große Masse des Vorhandenen war ja nicht plötzlich entbehrlich. Auch wir Heutigen haben keinen Ersatz, weder im Internet noch sonstwo, für das Gebirge der schon angesammelten Bücher. Viel taubes Gestein ist dabei, sicher, aber wie soll man das aussondern?  Und die Frankfurter Buchmesse stellt alljährlich über 300.000 Titel vor - wieviele davon sind im Netz? Sicher keiner von denen, die Umsatz versprechen, es sei denn gegen Bezahlung. Der Buchhandel einschließlich Amazon und der Zeitschriftenverlage mögen enorme Titelmengen online bestellbar machen und alles wunderbar leicht aufzufinden, aber nicht jeder kann alles kaufen, was er braucht. Und in den Bibliotheken lagert eine noch viel größere Menge von Aufzeichnungen, die im Handel längst vergriffen und nirgends sonst mehr zu finden sind, auch nicht bei Amazon. Dies alles zugänglich zu halten, bleibt als Aufgabe bestehen, und das schließt die Bewahrung für die Zukunft mit ein. Wir haben es mit Kulturgut zu tun, das in Kontinuität und Zusammenhang steht mit Aufzeichnungen, die heute oder morgen erscheinen, auch wenn die dann nur online zugänglich sind. Daher haben Bibliotheken ihr Nachweisen und Zugänglichmachen schon ausgedehnt auf Inhalte des Netzes. Das ist jedoch kein grundlegend anderer Vorgang als die Hinwendung zum Pergament, die schließlich auch in Alexandria vollzogen wurde. Das ist kein Paradigmenwechsel.

"Aufzeichnungen zugänglich machen", und zwar in größeren Mengen, das konnten bis zur Heraufkunft des Internet nur Institutionen mit gewissen räumlichen, materiellen und personellen Ressourcen. Heute kann jeder eine "Virtuelle Bibliothek" zu jedermanns Erbauung ins Netz stellen. Was macht ein "Portal" anderes, als Zugangswege zu allerhand Aufzeichnungen zu weisen? Das Internet ist die Infrastruktur, und sobald eine kritische Masse von Teilnehmern und von technisch zugänglichen Ressourcen angesammelt war und die Unübersichtlichkeit unangenehm wurde, da lag die Idee der Virtuellen Bibliothek auf der Hand und in der Luft und im Bereich des Machbaren, und allenthalben entstanden deshalb welche. Zugleich aber entstand die technische Möglichkeit, vorhandene maschinenlesbare Aufzeichnungen mittels Software vollautomatisch zu registrieren, zu indexieren und damit allgemein auffindbar zu machen. Die Suchmaschine war da. Doch Maschinen verstehen nichts; Hintergründe, Zusammenhänge bleiben ihnen verschlossen, zwischen den Zeilen steht für sie einfach gar nichts. Was sie tun ist die unterschieds- und kritiklose, algorithmische (streng formale) Indexierung aller vorfindlichen maschinenlesbaren Aufzeichnungen. Sie hantieren mit Zeichenfolgen, nicht mit deren Bedeutungen. Nicht mit Information. Nicht mit Wissen.

Wie auch immer: sind die Praktiken der Bibliotheken nun obsolet, nachdem Suchmaschinen viel größere Mengen von Aufzeichnungen zugänglich machen können, und das viel schneller? Das stimmt zum einen deshalb nicht, weil, wie gesagt, viele Aufzeichnungen nur in Bibliotheken liegen und nicht im Internet, und weil diese keinem elektronischen Harvester oder Grabbler zugänglich sind. Zum andern: Was man schon damals zusätzlich machte und heute noch macht, das war und ist das inhaltliche Erschließen der Sammlung. Mit den sog. "pinakes" (Tafeln) hatte Kallimachos von Kyrene (ca. 310-240 v.Chr.) eine Art Sachkatalog geschaffen, der für die Arbeit der Nutzer unverzichtbar und damit zum integralen Teil der Bibliothek wurde. Das war mehr als eine Suchmaschine: Darin standen Kommentare, Bewertungen und Zusammenfassungen. Zum ungeschriebenen Denkmodell der Bibliothek gehört seitdem das intellektuelle inhaltliche Erschließen untrennbar hinzu. Das kann durch einen Katalog, das kann auch durch eine systematische Aufstellung geschehen, oder beides. Nichts davon erledigt sich von selbst. Damit hätte nach dem Papyrus-Schlüsselerlebnis der Kernsatz des Denkmodells eigentlich schon lauten können, wenn wir dem guten Aristophanes nochmals auf die Sprünge helfen dürfen:

"Bibliotheken machen aufgezeichnete Inhalte auffindbar und dauerhaft zugänglich."

Und dies gilt gleichermaßen für konventionelle wie digitale Bibliotheken. Die Hilfe von Suchmaschinen beim Auffinden, um's nochmal zu sagen, ist rein formal, bezogen auf den exakten Wortlaut der Texte und eben nicht auf den intellektuellen Gehalt: sie suchen, was man eintippt, nicht was man meint. Für die Faktensuche ist dies trotzdem eine enorme Hilfe und den papierenen Nachschlagewerken oft überlegen. Bei der Materialsuche geht aber der Bruchteil der wirklich wichtigen Arbeiten unter im Gewimmel der Nichtigkeiten. Und die Maschinen machen die Texte nicht selber zugänglich: eine nachgewiesene Adresse existiert womöglich gar nicht mehr.

Es könnte hier der Einwand laut werden, der Aspekt der Auswahl sei damit nicht berücksichtigt. Nun ja, die Formulierung "machen aufgezeichnete Inhalte auffindbar" verzichtet absichtsvoll auf das Wörtchen "alle". Alle Bibliotheken müssen auswählen, schon aus Platz- und Finanzgründen. Suchmaschinen unterliegen keiner Beschränkung, sie nehmen alles auf, was sich findet. Meint man. Aus verschiedenen technischen Gründen und wegen des enormen, unablässigen Wachstums kann keine Suchmaschine den Gesamtinhalt des Web anbieten. Nachvollziehbare Kriterien für die zwangsläufige Auswahl gibt es nicht, und viel Material liegt im für Suchmaschinen unzugänglichen "Invisible Web". Bibliotheken haben meist eine Erwerbungspolitik, die eine begründete und nachvollziehbare Auswahl ermöglichen soll. National- und Regionalbibliotheken, Sondersammelgebiete, Spezialsammlungen streben durchaus für ihre Bereiche nach Vollständigkeit. Nimmt man die heutigen Verbundkataloge zusammen, ergibt sich eine hohe Abdeckung. Auf der andern Seite gibt es Nutzer, die sich von einem undifferenzierten Mega-Bestand entmutigt, ja erschlagen fühlen, die einen überschaubaren, mit Überlegung ausgewählten Bestand zu schätzen wissen. Den finden sie in den Lesesälen von Bibliotheken. Was da steht, mag eine subjektive Auswahl sein, doch sie bietet einen Einstieg, sie bietet Wegweiser zum Auffinden weiterer Inhalte. Das ist ein Aspekt der Ökonomie des Geistes, die jeder auch für sich selbst anzustreben hat, um nicht unterzugehen in einem uferlosen Ozean. (1921 bereits hat Adolf von Harnack von einer "Nationalökonomie des Geistes" geschrieben, zu der Bibliotheken einen wesentlichen Beitrag leisten. Das ist leider, obwohl längst überfällig, bis heute der Öffentlichkeit nicht aufgefallen. Ein neues Paradigma wird gebraucht, ein Denkmodell für die geistige Arbeit! Darin haben Bibliotheken einen Platz - aber mit welchem Gewicht? Dies nur als Anregung.)

"Inhalte auffindbar machen", das bedeutet unter anderem, das Zusammengehörige zusammenzuführen. Dies hat zwei Aspekte: den formalen (Werke eines Verfassers, Ausgaben und Teile eines Werkes) und den sachlichen (Material zu einem Thema). Das sind unausgesprochene, aber sehr starke Erwartungen der Nutzer, und zwar wohl seit der Antike. Darum bemühen sich die Formalkatalogisierung bzw. die Sachkatalogisierung. Vollkommen automatisch lassen sich solche Erwartungen bei den Web-Dokumenten nicht erfüllen, die Datengrundlage gibt das nicht her. Genau deshalb entstand die Vision des "Semantic Web". Sie kann nur Realität werden, wenn die Inhalte im Web mit anspruchsvollen Metadaten ausgestattet werden - was sie momentan nicht sind. Vermutlich wird dies als neues Web-Paradigma angesehen. Noch ist es Utopie und zugleich alter Wein in neuen Schläuchen. Denn was man braucht, ist eine "Ontologie". Damit ist nichts anderes als eine normierte Terminologie gemeint, eine Klassifikation oder ein Thesaurus, ein festgelegtes Begriffsraster also. So etwas ist, wie wir längst wissen, äußerst schwierig zu konstruieren. Aber auch nicht leicht zu verwenden, wenn man es denn hätte - denn die Welt läßt sich nun mal nicht in lauter Schubladen einsortieren. Dies alles zu automatisieren gehört zu den ungelösten Problemen der Künstlichen Intelligenz.

"Doch auch indem ich dieses niederschreibe, da warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe!" (Faust beim Übersetzen der ersten Zeile des Johannesevangeliums, wo es um das Denkmodell des Weltbeginns geht.) Der eben hingeworfene Kernsatz sagt noch immer nichts Direktes über Rolle und Funktion der Bibliotheken in Wissenschaft und Gesellschaft. Dazu hat sich, vor über 100 Jahren, Melvil Dewey paradigmatisch geäußert: "Die Bibliothek ist ein Ort des Lernens, nicht ein Lager für Bücher." Orte des Lernens sind, man braucht nur "Pisa" zu sagen, heute nicht weniger nötig als vor 100 oder 2000 Jahren. Auch das Museion war ein solcher Ort: ein Universitäts-Prototyp. Die Bibliothek stand dabei ganz selbstverständlich im Zentrum. Man brauchte sie ständig, denn man lernte ständig. Zu lernen gibt es heute mehr denn je.
Unser Kernsatz nennt eine Voraussetzung dafür, damit Bibliotheken solche Orte sein können. Es gibt noch andere Voraussetzungen. Deweys Ausspruch darf zwar als ein über allem schwebendes Paradigma für Bibliotheken gelten, aber es gibt auch noch andere Orte des Lernens. Deshalb sollte der Kernsatz zur Konkretisierung hinzutreten:

"Bibliotheken sind Orte des Lernens. Dazu machen sie aufgezeichnete Inhalte auffindbar und dauerhaft zugänglich."

Ob dies auch für digitale Bibliotheken gilt, sei dahingestellt. Sicher nicht für jede Einrichtung, die sich so nennt.

(Nebenbei: Zwar genial, aber rein metaphorisch und damit nicht als Paradigma brauchbar ist Goethes Sichtweise von der Bibliothek als einem  "großen Kapital, das geräuschlos unberechenbare Zinsen spendet". Für die heutige Zeit ist dies aus zwei Gründen von zweifelhaftem Wert: Was beachtet werden will, darf nicht geräuschlos daherkommen, und Zinsen haben heute genauestens berechenbar zu sein, wenn sie beeindrucken sollen.) 

Eins darf man hier nicht vergessen: Egal, was es zu lernen gibt, zuerst will das Lernen selbst gelernt sein! Erfolgreiches Finden von Aufzeichnungen und nutzbringender Umgang damit ergeben sich nicht irgendwie von selbst, sondern brauchen einige Kenntnisse und Fertigkeiten. Das verstehende Lesen allem voran, wie wir heute wissen. Die Vielfalt potentiell hilfreicher Aufzeichnungen ist heute ungleich größer als vor 2000 Jahren, klar, deshalb braucht man mehr Kenntnisse als damals. Wo sollen die erworben werden, wenn nicht in Bibliotheken als den größten Zentren des aufgezeichneten Wissens? Wenn man dafür nun "Medienkompetenz" sagt, ist das vielleicht ein Aufmerksamkeit erregendes Schlagwort, aber grundsätzlich neu ist es nicht, gebraucht hat man's immer. Übertrieben? Vielleicht können Sie diesem Satz zustimmen: Bibliotheken, Archive und das Internet zusammen umfassen die aufgezeichneten Erfahrungen, Erkenntnisse, Ideen und Äußerungen dieses Planeten, und zwar aus allen Zeiten und Regionen, zu allen Themen, in allen Sprachen und von allen Personen, die etwas beizutragen hatten. Das Navigieren in diesem multidimensionalen Universum braucht Kenntnisse, Spürsinn und Urteilsvermögen. Es kann nicht einfach sein und durch Maschinen nicht einfach gemacht werden. Nicht jeder, folgt daraus, der nur unregelmäßig etwas nachzuschlagen oder nachzulesen hat, kann sich umfassende Kenntnisse und Erfahrungen aneignen, um Bibliotheken und/oder das Internet rationell und effektiv zu nutzen. Und daraus ergibt sich ein Bedarf für Auskunftsleistungen. Google hat einen Service namens "Google Answers" aufgebaut, Bibliotheken haben hier und da E-Mail- oder Chat-Auskunftsdienste eingerichtet. Das könnte man als neues Paradigma der Bibliotheksnutzung ansehen. Viele lassen nachschlagen, statt es selber zu tun, und bezahlen evtl. dafür. Richtig neu ist das aber wohl nicht, es nimmt nur zu und wird immer mehr organisiert. Für Bibliotheken ist es eine Erweiterung, eine Diversifizierung des Auskunftsdienstes, aber kein neues Bild der Bibliothek als solcher.

Als neueste Welle rollt E-Learning durch die Lernwelt. Multimediale Inhalte, die dazu entstehen, müssen auffindbar und dauerhaft zugänglich gemacht werden, und das, wie immer, nicht separat und isoliert, sondern im Zusammenhang mit anderen, schon vorhandenen Inhalten. Also am Lernort Bibliothek, wo die anderen Inhalte zu finden sind. Nichts Neues also. Neu sind Mittel und Methoden, Nicht mehr und nicht weniger. Was nicht heißt, der bibliothekarische Umgang damit könne einfach sein.

P.S.
Drei Einwürfe sind vorhersehbar:

  1. "Also Himmel nochmal, warum denn so tief in die Geschichte abtauchen?"
  2. Dazu meinte W. Churchill einmal: 'The farther backward you can look, the farther forward you are likely to see'.

  3. "Was soll der alberne Titel, wenn am Ende rauskommt, es habe im Bibliothekswesen nur einen einzigen Paradigmenwechsel gegeben?"
  4. Die Antwort ergibt sich aus derjenigen zur dritten Frage:

  5. "Und was ist mit der Unterhaltung? Die gehört mit zum Bildungsauftrag von Bibliotheken!"
  6. Wohl wahr. Aber wer sich gut unterhalten und nicht gelangweilt hat, der hat dabei was Neues erfahren oder erlebt. Also was gelernt! Und zwar über die Welt, im weitesten Sinne. Was bedeutet, sein Weltbild hat sich erweitert oder verändert. In Bibliotheken finden also jeden Tag viele Paradigmenwechsel statt, und zwar in den Köpfen der Leser. Der Titel taugt als Begrüßung, wenn man sich in einer Bibliothek trifft.


Genau genommen hat Kuhn nicht den Ausdruck "paradigm shift" erstmals definiert und als Synonym für "Wissenschaftliche Revolution" verstanden, sondern als neutralen Oberbegriff benutzt. Nur besondere derartige "shifts" können als "wissenschaftliche Revolution" bezeichnet werden. So gesehen ist "Paradigmenwechsel" etwas durchaus Unspektakuläres, was überall passieren kann. D.h., die Leute, die damit um sich werfen, haben eigentlich alle Recht. In der heutigen Verwendung allerdings soll es meistens signalisieren, etwas sehr Bedeutsames finde statt. Die begriffliche Situation ist, wie so oft, verworren.

1876 schrieb Dewey in der ersten Nummer des Library Journal: "... in unserer Zeit ist die Bibliothek eine Schule und der Bibliothekar ist im höchsten Sinne Lehrer".




B. Eversberg, 2003-10-21 / 2005-03-16